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57. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

28. - 30.09.2023, Berlin

Stellen von psychiatrischen Diagnosen im allgemeinmedizinischen und psychiatrischen Kontext – eine qualitative Studie

Meeting Abstract

  • presenting/speaker Hannah Tebartz van Elst - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Institut für Allgemeinmedizin, Lübeck, Deutschland
  • Claudia Niehoff - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Institut für Allgemeinmedizin, Lübeck, Deutschland
  • Jost Steinhäuser - Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Institut für Allgemeinmedizin, Lübeck, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. 57. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Berlin, 28.-30.09.2023. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2023. DocV-04-01

doi: 10.3205/23degam019, urn:nbn:de:0183-23degam0191

Veröffentlicht: 27. September 2023

© 2023 Tebartz van Elst et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Über die Prävalenz von psychiatrischen Erkrankungen im primärärztlichen Bereich ist wenig bekannt. Spezialisten überschätzen diese nicht selten. Routinedaten könnten hier eine wertvolle Datenquelle sein, die allerdings aufgrund von beeinflussenden Faktoren für und gegen das Stellen von psychiatrischen Diagnosen beeinflusst sein könnten.

Fragestellung: In dieser Studie wurde exploriert, welche Motive und beeinflussenden Faktoren für oder gegen die Vergabe psychiatrischer Diagnosen in der psychiatrischen und allgemeinmedizinischen Versorgung existieren.

Methoden: Es wurden 26 halbstrukturierte Interviews mit deutschen Ärzt:innen aus den Bereichen Allgemeinmedizin und Psychiatrie geführt. Die Interviews wurden transkribiert und eine systematische Inhaltsanalyse nach Mayring durchgeführt.

Ergebnisse: Die Analyse ergab drei Hauptkategorien: 1. „Objektive Faktoren“ wie „Kategorisierung für Forschung“; 2. funktionale Faktoren wie „Kommunikation mit Kollegen“ und 3. strukturelle Faktoren wie „Kommunikation mit Krankenkassen/ Versicherungsgesellschaften“.

Gleichsam ergaben sich Faktoren, wie zum Beispiel die Gefahr der Stigmatisierung, die gegen das Stellen von psychiatrischen Diagnosen sprachen.

In einigen Bereichen ergaben sich unterschiedliche Muster zwischen den Disziplinen. So stellten beispielsweise mehr Allgemeinmediziner als Psychiater eine Diagnose um eine Arbeitsunfähigkeitsversicherung zu rechtfertigen, während mehr Psychiater eine Erkrankung diagnostizierten, um eine medikamentöse Behandlung zu ermöglichen.

Diskussion: Die Ergebnisse unterstreichen, dass sich nur ein Teil der Faktoren bei der psychiatrischen Diagnosevergabe auf objektive Sachverhalte bezieht. Die gewonnenen Hypothesen können helfen, die Komplexität der Zuweisung psychiatrischer Diagnosen in Routinedaten besser zu verstehen.

Take Home Message für die Praxis: Der Diagnoseprozess in einem potenziell stigmatisierenden Bereich ist ein komplexes Phänomen, welches weit über die Feststellung medizinischer Fakten oder Krankheitskategorien hinausgeht. Diese Erkenntnis sollte bei der Verarbeitung und Interpretation von Sekundärdaten berücksichtigt werden, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich diagnostische Begriffe selbstverständlich auf eng definierte Sachverhalte beziehen. Das Stellen von Diagnosen hängt auch davon ab, in welchem Bereich des medizinischen Systems sie entstehen.